Was ist Mystik?

Urfassung: Berlin-Tempelhof, im Dezember 1998

 

 

Es gibt für diesen Begriff zahlreiche Umschreibungen, die meist an eine bestimmte Religion gebunden sind. Eine die einzelnen Religionen übergreifende Beschreibung scheint schwer zu fallen.

 

Das Wort selbst gelangte wohl im Zeitalter der frühchristlichen Kirchenväter zu Bedeutung, und zwar in einer sich auf Dionysios Areopagita berufenden Textsammlung, vermutlich aus dem 5./6. Jahrhunderts, als "mystikê theología". Letzten Endes scheint diese Sammlung Bezug zu nehmen auf jene seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. verbreitete Kultbewegung, die sich auf einen zunächst außergriechischen Dionysos berief. Man beachte die Namensähnlichkeit!

 

Dionysische Kulte waren durch wilde Tänze, Kostümierung, Tragen langer, oben schwerer Stäbe (ursprünglich Thyrsosstauden) und zunehmend auch durch Weintrinken gekennzeichnet. Dem folgten verzückte Zustände, die als Gottergriffenheit aufgefasst wurden.

 

In Griechenland bildete sich unter Einfluss der Familien- und Staatskulte von Eleusis bei Athen eine Art Gemeinde- oder Vereinsstruktur dionysischer Bewegungen heraus.

 

Gemeinsame Kennzeichen beider Kulte waren Erlebnisse oder Vorstellungen von Einweihung und Neugeburt der Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer.

 

Diese hatten gegenüber Uneingeweihten Schweigepflicht, was in dem Wort "mystêrion" ausgedrückt wurde, das 'Geheimnis, Geheimkult, Geheimlehre, Geheimweisheit' bedeutet. Man vergleiche unsere Worte "Mysterium", "mysteriös" und "Myste". Alle sind hergeleitet von altgriechischem "mýô" - 'ich schließe (die Augen/die Lippen), höre auf'. Solches Schweigen - ursprünglich und in der Folge auch ein Schweigewunsch - war wahrscheinlich der begriffsprägende Anteil im Bezug auf die später so genannte Mystik: 'Geheimweisheitliche Gotteskunde' bezeichnete demnach wohl Erfahrungen bestimmter Menschen, über die sie nicht sprechen durften, wollten oder konnten.

 

In Christentum und Islám, in welche solch ein Mystik-Begriff Eingang fand, scheint es am ehesten das Nichtsprechenkönnen über etwas zu sein, das sich nur schwierig oder gar nicht in Worte fassen lässt. Der Grund dafür mögen als 'übersinnlich' oder 'überweltlich' empfundene Erfahrungen gewesen sein. Deren Ausdrückbarkeit hängt vom Vorhandensein oder eben Nichtvorhandensein gleichnishaft nutzbarer Bildgegenstände aus der hiesigen Welt ab. Mittels solch bildhafter Wiedergaben ist versucht worden, etwas zu vermitteln, dessen Beschreibung in Worten lediglich als schwacher Abglanz der erlebten Eindrücke empfunden wird. Die auf diese Art ausgedrückten Erlebnisse scheinen Vermischungen von Selbst- und Gottes-Erfahrungen zu sein. Das Verbindende zwischen beiden ist - wie wir aus den Heiligen Schriften entnehmen können - der Geist.

 

‘Abdu'l-Bahá, der älteste Sohn und ernannte Ausleger des Stifters der Bahá’í-Religion, lehrte, dass der Geist verschiedene Stufen hat: z. B. Menschengeist, Geist des Glaubens und Heiliger Geist (Beantwortete Fragen, Kap. 36). Er und auch schon Bahá'u'lláh legten dar, dass der Heilige Geist eng mit den Stifterpropheten verbunden ist (vgl. H. Balyuzi, Der Herr der Herrlichkeit, S. 36). Der für gewöhnliche Menschen erreichbare Geistanteil hingegen ist geprägt von einer Erweiterung des Menschengeistes hin zum Geist des Glaubens. Die Erfahrung des Göttlichen durch den Menschen würde sich dann auf der Ebene dieses Glaubensgeistes abspielen. Eine wirkliche Vereinigung mit Gott, wie manche Mystiker es empfunden haben, wäre dann nicht im eigentlichen Sinne gegeben. Vielmehr wäre es das Erreichen einer der Gnadengaben des Heiligen Geistes - "Gabriel/Dschibrail" - in Form jenes Glaubensgeistes, welcher sehr wahrscheinlich mit dem biblischen und koranischen "Michael/Mikhail" gemeint ist (Judasbrief 9; Koran 2,98 (92)). Ausführliche Umschreibungen jenes geistigen Abenteuers der Menschheit sind etwa in Bahá'u'lláhs "Sieben Tälern" enthalten, außerdem in den "Vier Tälern" und den "Verborgenen Worten". Im "Buch der Gewissheit" legte Er die Bedingungen dar, die der "wahre Sucher" erfüllen soll (S. 129-133), damit der "mystische Herold, der die Freudenbotschaft des Geistes bringt, aus der Stadt Gottes strahlend wie der Morgen" aufleuchtet; dieser werde "durch den Posaunenstoß der Erkenntnis das Herz, die Seele und den Geist aus dem Schlummer der Nachlässigkeit erwecken" (131).